Alles über Verbundenheit

Oh, wie habe ich mich geärgert, als ich in der U-Bahn saß und merkte, dass ich mein Buch vergessen hatte. Wie doof kann man sein?! Vor mir lag eine vierstündige Zugfahrt und ich hatte mich so auf diese seltene, absolute und exklusive Me-Time gefreut! Endlich entspannen, dösen, vor mich hin starren und mich in die Geschichte vertiefen, für die ich im Alltag so wenig Zeit habe – und das alles ganz ohne das sonst allgegenwärtige schlechtes Gewissen, dass ich doch eben mal noch schnell dies und das erledigen könnte (schließlich ist z.B. die Wäsche einfach nicht da und das Laptop vorsätzlich zu Hause). Tja. Mist.

Doch zum Glück gibt es Bahnhofsbuchhandlungen und glückliche Fügungen. Denn in der hässlichen Ladenpassage zwischen den Gleisen lag das wunderschöne lila Buch, auf das ich schon vor Monaten ein Auge geworfen hatte, weil ich es so ansprechend gestaltet fand mit seinem lila Farbschnitt rundum. Als hätte es auf mich gewartet: „Lieben lernen. Alles über Verbundenheit“ von bell hooks. Auf dem Rücken die Botschaft, dass es darum geht, der Liebe wieder ihren rechtmäßigen Platz in der Welt zuzuweisen, und der Hinweis, dass Frauen, die dazu beitragen wollen, „klug, waghalsig und mutig“ sein müssen. Jawoll. Me-Time, ich komme!

Entspannung finden im Zug und im Leben

Und es wurde eine wunderbare gemeinsame Fahrt und mehrtägige Reise. Denn beim Lesen war mir, als würde bell hooks – übrigens das selbstgewählte Pseudonym der amerikanischen Feministin und Sozialkritikerin Gloria Jean Watkin – direkt von und zu mir persönlich sprechen. So sehr fühlte ich mich verstanden! Als Frau mittleren Alters, die von der Sehnsucht überwältigt wurde nach persönlichem Wachstum, nach innerer Ruhe und nach Ehrlichkeit mit sich selbst und anderen – als Mensch, der endlich nicht mehr die Rollen spielen will, die von anderen für ihn vorgesehen wurden, sondern die eigene Rolle finden, in der es möglich ist, anzukommen und sich endlich, endlich zu entspannen.

Bei der titelgebenden Liebe geht des folglich nicht um die große Romantik. Denn über die Verliebtheitsphase ist hooks beim Schreiben des Buchs ebenso hinaus wie ich beim Lesen. Wir sind beide etwas über 50 und im Grunde auch ganz fein damit, denn das Alter hat klare Vorteile. Wenn man es annimmt, bringt es eine gewisse Gelassenheit mit sich: Man muss echt nicht mehr jeden Mist mitmachen und nicht mehr die Erwartungen von allen und jedem erfüllen.

Self love, stupid!

Wenn es um Liebe geht, geht es in diesem Buch also darum, wie man in jeglichen zwischenmenschlichen Beziehungen – zu Freundinnen, zu Kindern, zu Seelenverwandten und ja, auch zu Männern – tieferere Erfüllung finden kann. Und es geht darum, dass dies Frauen in ihrer zweiten Lebenshälfte durchaus leichter gelingen kann, als zuvor. Denn der Schlüssel zu der Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt ist natürlich die Liebe zu sich selbst. Und die wird gerade jungen Frauen in unserer Gesellschaft immer noch sehr schwer gemacht (und wurde es erst recht in der Jugend von bell hooks in den 60er Jahren), während sich die ältere Frauen, um die es hier viel geht, neue Möglichkeiten erschließen.

Und so singt bell hooks in diesem schönen lila Buch eine großartige Hymne auf die Selbstliebe als Grundlage für jede andere Form der Liebe. Sie ermutigt ihre Leserinnen – und hoffentlich auch den gelegentlichen Leser – sich selbst anzunehmen und zu feiern, auch den Körper, der schon so viel geleistet und gelebt hat, und seine Schwächen und Unvollkommenheiten wohlwollend zuzulassen. Denn hey, er hat uns weit gebracht! Und sie zeichnet das Bild eines zweiten Frühlings, einer späten Befreiung, einer neuen Chance auf Entfaltung nach den Wechseljahren – ohne Kinder, ohne Fruchbarkeit, vielleicht ohne Mann und im Idealfall sogar ohne Exitenzängste und sonstige Unsicherheiten. Da geht noch was, Frauen! Wie gut, dass ich mein Buch vergessen hatte 🙂

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