Eine der größten Herausforderungen für mich in der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) ist es immer noch, meinen eigenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen. In einer emotionalen Situation – in der ich traurig, wütend, irritiert oder verzweifelt bin z.B. – herauszufinden, woher die Gefühle kommen und worum es mir eigentlich geht, fällt mir schwer. Und doch ist diese Klarheit entscheidend, um gewaltfrei kommunizieren zu können: Kehrt man die eigenen Bedürfnisse zu oft unter den Teppich, tun sie sich dort mit den Wölfe zusammen. Diese metaphorischen Tiere, die in Rosenbergs Universum für gewaltvolle Kommunikation stehen, warten nur darauf, meine Bedürfnisse verteidigen zu können. Und eine Gelegenheit dafür finden sie immer, früher oder später. Dann wird losgeheult.
Was sind eigentlich Bedürfnisse?
Warum aber ist es so schwierig, sich mit den eigenen Bedürfnisse zu verbinden? Das liegt zum einen daran, dass Bedürfnisse schrecklich vielfältig und oft sehr abstrakt sind. Sie lassen sich nicht in eine universell gültige Pyramide stecken (wie Maslow es getan hat), wo sie unten Nahrung, Luft und Wasser heißen und oben Anerkennung und Selbstverwirklichung. Bedürfnisse in der GfK sind sehr viel bunter, zahlreicher und manchmal auch rätselhafter. Sie heißen etwa Beitragen, Ausgewogenheit, Gerechtigkeit und Sinn, Entwicklung, Klarheit, Leichtigkeit und Fülle. Und manchmal auch Realität teilen, Werdelust und Kongruenz.
Zudem lassen sich Bedürfnisse in der GfK nicht übersichtlich sortieren. Anders als in der Pyramide sind alle gleich: Das Bedürfnis nach Nahrung wird nicht anders gewichtet als das nach Verbindung oder danach, zu helfen – sonst würden hungernde Menschen in Extremsituationen nicht ihr letztes Stück Brot mit anderen teilen, so die Beobachtung von Rosenberg. Dabei sind alle Bedürfnisse universell gültig, ist Rosenberg überzeugt: Alle Menschen überall haben die gleichen Bedürfnisse. Sie existieren unabhängig von Raum und Zeit und Person. Und deshalb – so eine von Rosenbergs Kernaussagen – können wir über unsere Bedürfnisse immer und überall Verbindung schaffen. Auch mit Leuten, die wir nicht mögen.
Denn in Konflikt geraten wir nie über Bedürfnisse, sondern nur über die Strategien, die wir wählen, um uns die Bedürfnisse zu erfüllen. Es gibt beispielsweise sicher jemanden, der die Entscheidung, das letzte Brot zu teilen, nicht für die beste Strategie hält, um Verbindung zu schaffen. Dennoch wird er das Bedürfnis dahinter kennen und anerkennen können.
Die eigenen Bedürfnisse kennenlernen
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Bedürfnis hinter der Geste überhaupt klar erkannt wird. Und das ist selbst für die handelnde Person nicht einfach. „Ach, ich mach immer so dummes Zeug“ oder „Ich bin halt naiv“ sind so Sätze, in denen die Ratlosigkeit deutlich wird. Oder auch: „Warum bin ich wieder so empfindlich?“. Hier werden Impulse, Gefühle, die auf etwas hinweisen, was uns wichtig ist, nicht ernst genommen, unter den Teppich gekehrt…
Und diese Unter-den-Teppich-Kehren folgt oft bestimmten Mustern. Denn Bedürfnisse sind auch etwas sehr Persönliches. Welche uns besonders beschäftigen, ist individuell und situativ unterschiedlich. Manche sind immer sehr präsent, manche nur in bestimmten Lebensabschnitten starkt ausgeprägt, manche verlieren mit der Zeit an Bedeutung und manche kommen nie durch, weil sie nicht zu dem Bild passen, das wir von uns selbst haben (wollen). Aber sie sind da, immer, auch wenn wir sie nicht sehen wollen. Und meist sind es viel mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Wenn man länger mit ihnen tanzt, ergeben sich deshalb erstaunliche Erkenntnisse (z.B., dass man sich über falsch parkende Autos aufregt, weil einem soziale Gerechtigkeit am Herzen liegt).
Es geht um Selbst-Empathie
Doch zum Glück gibt es neben dem Weg übers Tanzparkett – der ebenso erhellend wie weit ist – noch unzählige andere Tipps und Handreichungen, um besser zu durchschauen, was hinter den eigenen Gefühlen wirklich steckt. Sie alle helfen dabei, mit den Wölfen unter dem Teppich in Dialog zu treten, die unsere Bedürfnisse am besten kennen (nur eben nicht die beste Sprache finden, um sie zu verteidigen). So sind etwa die folgenden Leitfragen nützlich, um nachzuforschen, was mir so sehr am Herzen liegt, dass es starke Gefühle auslöst:
- Worum ging es bei den letzten großen Auseinandersetzungen in meinem Leben?
- Wofür mache ich anderen gern Komplimente?
- Welches Urteil über mich selbst fürchte ich am meisten?
- Mit wem vergleiche ich mich gern?
- In welchen Situationen bin ich frustriert?
- Welche Urteile über mich selbst kommen immer wieder hoch?
Dabei lernt man sich besser kennen und kann Selbst-Empathie entwickeln. Denn darum geht es: um eine wohlwollende Haltung gegenüber sich selbst und den eigenen Bedürfnissen und auch den eigenen Gefühlen, die sie auslösen. Diese Haltung zu pflegen, öffnet den Blick dafür, was gerade wesentlich ist. Logisch: Um etwas klarer sehen zu können, muss ich es erst einmal an mich heranlassen.
Und wenn ich so Verbindung zu meinem Bedürfnis aufgenommen habe, spüre ich ein Gefühl des inneren Friedens, eine Weichheit, ein nachlassen der Spannung. Dann kann die Giraffe die Kommunikation übernehmen: Das Landtier mit dem größten Herzen kann das laute Bellen der Wölfe in gewaltfreie Kommunikation übersetzen und eine konstruktive Verbindung zum Gegenüber aufbauen.