Schon ewig hab ich es mir vorgenommen und schon immer ahne ich, dass sie mich beeindrucken wird: die Theorie des systemischen Denkens. Eine Theorie, die davon ausgeht, dass alles zusammenhängt, dass es keine einfachen Erklärungen gibt und die ein „bigger picture“ zeichnet vom komplizierten und komplexen menschlichen Miteinander in Gesellschaft, Wirtschaft und auch Familie und sonstwo. Genau mein Ding also.
Leider hatte ich bisher immer Angst vor Luhmann, dem Übervater der Systemtheorie, dem Juristen, Soziologen und Systemforscher Niklas Luhmann, der 1927 in Lüneburg geboren und 1998 in Bielefeld gestorben ist. Ihm eilt der Ruf voraus, ebenso klug wie kryptisch zu sein, ein schlauer Denker, dessen Gedankengängen man oft nur mühsam folgen kann.
Doch zum Glück gibt es ja nicht nur seine eigenen Schriften, sondern auch zugänglichere Podcasts, YouTube-Tutorials und Margot Berghaus und ihr Buch „Luhmann leicht gemacht“, das mir beim Einstieg ins Thema immer wieder begegnet. Und da es auch einen äußeren Anlass gibt – ein kleiner Auftrag mit systemischem Touch, den ich nur angenommen habe, um endlich einzusteigen zu müssen -, lasse ich mich also nun endlich, endlich auf Luhmann ein.
Systeme bestehen nicht aus Dingen …
Zunächst lerne ich dabei, dass es drei verschiedene Systeme gibt: biologische Systeme (Organismen, Pflanzen, Tiere, unser Körper, Pantoffeltierchen), psychische Systeme (Individuen) und soziale Systeme (Gruppen, Vereine, Paare, Familien, die Gesellschaft). Daneben gibt es noch Maschinen, die manchmal als triviale Systeme bezeichnet werden, im Sinne der Systemtheorie sind diese aber keine wirklichen Systeme. Denn ihnen fehlen wichtige Eigenschaften, die ein solches System, so wie iich Luhmann verstehe, definieren:
- Autopoiesis: Systeme entstehen aus sich selbst heraus, erhalten sich selbst und steuern sich selbst. Sie produzieren und reproduzieren sozusagen die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elementen, aus denen sie bestehen, selbst. Das trifft auf Organismen, auf psychische und auf soziale Systeme zu. Die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela schufen mit dem Begriff erstmals eine strenge Definition des Lebens, Luhmann übernahm ihn und erweiterte ihn auf weitere Systeme.
- Operationen: Damit sind biologische, psychische und soziale Systeme ein zirkulär geschlossener Zusammenhang von Operationen. Als Operationen bezeichnet man die Elemente, die ein System ausmachen: Biologische Systeme operieren mit Zellvorgängen als Elementen – sie leben. Psychische Systeme operieren mit Bewusstseinsprozessen – mit Gedanken etwa. Und die sozialen Systeme operieren durch Kommunikation. Diese Operationen werden auch als Strukturelemente von Systemen bezeichnet.
- Selbstreferenz: Diese Operationen sind in psychische und soziale Systeme nach Luhmann zudem selbstreferenziell. Sie beziehen sich auf schon da gewesene Operationen und ermöglichen so Anschlussfähigkeit, d.h. so wird es für ein System möglich, die für seinen Bestand notwendige Elemente immer wieder herzustellen: Ein System entsteht und erhält sich dadurch, dass sich Operationen aneinander anschließen. Soziale und psychische Systeme können Informationen verarbeiten und Erfahrungen speichern, wodurch sie weniger abhängig von ihrer Umwelt sind als biologische Systeme.
- Abgrenzung: Alle Systeme ziehen eine Grenze zwischen innen und außen und differenzieren sich von ihrer Umwelt . Besonderen Fokus legt Luhmann dabei auf die Grenze selbst, nicht das Abgegrenzt-sein. Systeme, so betont er, schwimmen nicht „wie Fettaugen auf der Suppe“, losgelöst für sich in der Welt. Sie haben starke Bezüge zu ihrer Umwelt (Fremdreferenz) – für Organismen ist es z.B. die Nahrungsaufnahme, für soziale Systeme sind es Eindrücke und Informationen. Welche davon wahrgenommen werden, entscheiden die Strukturen des Systems: Zur Kommunikation gemacht wird das, was aus den vielen potenziellen Möglichkeiten, die die Umwelt anbietet, als für das System relevant, also sinnvoll erscheint. Ereignisse werden so gedeutet, dass sie Sinn machen. Alles andere wird ignoriert (Sinn-Unterstellung). So reduzieren Systeme Komplexität (und schaffen dabei bisweilen ihre eigene, neue Komplexität …).
… sondern aus Operationen
Systeme halten sich durch Opterationen aufrecht. Soziale Systeme tun dies, indem sie kommunizieren. Anders herum gesagt: immer wenn Kommunikation stattfindet, entsteht oder besteht ein soziales System. Und hier wird es nun kniffelig, wenn nicht gar kryptisch: Denn Luhmann sagt, es sind nicht die Menschen, die Mitglieder des System, die kommunizieren, sondern die Systeme selbst – die Menschen nehmen an der Kommunikation teil, sie machen Mitteilungen, Gesten, Interaktionen. Kommunikation entsteht aber zwischen ihnen. Sie ist das soziale System. Okay, das ist gewöhnungsbedürftig.
Deshalb sollte man sich bei der Betrachtung von sozialen System nicht auf die Mitglieder, sondern auf die Strukturen konzentrieren – also auf Spielregeln und Erwartungen. Die Strukturen bestimmen, wie Menschen in einem bestimmten System agieren. Erwartungen setzen den Rahmen für die Operationen in einem System, so verengen sie den Möglichkeitsraum und sorgen für Anschlussfähigkeit, so Luhmann. D.h. sie reduzieren Komplexität, indem sie die Vielfalt an Möglichkeiten um uns herum handhabbar machen: Wenn ich zur Frisörin gehe, werden mir die Haare geschnitten, die Orthopädin kümmert sich um meine Rückenschmerzen, wenn die Tür vom Büro zu ist, ist der Chef nicht ansprechbar. Und das bleibt auch erst einmal so, wenn die Person, die in der Praxis oder hinter der Bürotür sitzt, eine andere ist.
Trotzdem verändern sich Strukturen immer wieder in einem System. Doch nur das System selbst kann Strukturveränderungen in Gang setzen. Von außen können zwar Impulse kommen, ob diese als sinnvoll erachtet und wahrgenommen oder sogar verwertet werden, entscheidet aber das System. Wie sie verwertet werden bzw. was auch einer Änderung resultiert, ist dabei die große Frage, denn soziale Systeme sind auch durch zirkuläre Wechselwirkungen gekennzeichnet: Jede Veränderung wirkt auf verschiedene Elemente, was wiederum Rückwirkungen auf die ursprünglich veränderten Elemente haben kann.
Es ist also nie abzusehen, wie genau ein Veränderungsimpuls auf ein System wirkt. Das gilt für die Aspirin, die einem biologischen System verabreicht wird, genauso wie für einen neuen Kickertisch im Büro: Er kann, der zur Entspannung im Team führen, aber auch zu mehr Konflikten – was für eine neue Software, die in einer Organisation eingeführt wird, natürlich erst recht gilt. Es ist also kompliziert und manchmal sogar kryptisch, weil die Welt mit uns Menschen darin einfach so ist, wie sie ist… Wer Systeme – Organisationen, Gruppen, Familien, Gesellschaften – verändern will, sollte sich also nicht von Luhmann abschrecken lassen. Seine Texte sind wahrscheinlich noch die kleinste Herausforderung bei diesem Vorhaben 😉