Wie treffen wir eigentlich wichtige Entscheidungen? Wohlüberlegt und rational? Hm. Spätestens seit der Abstimmung für den Brexit, den Erfolgen der AfD und meinem gestrigen Kauf von drei Kekstüten trotz besserer Vorsätze darf das in Frage gestellt werden. Menschen treffen wichtige Entscheidungen aus einer Laune heraus, aus Trotz, aus Angst, aus Loyalität oder auch „aus Prinzip“ – und entscheiden sich damit nicht selten für etwas, was für sie (rational betrachtet) von Nachteil ist.
Trotzdem ist der Glaube an die Rationalität immer noch das eine Skript, dem Diskussionen über Wirtschaft und Gesellschaft folgen: Wenn es um wichtige Dinge geht, wird ganz sachlich entschieden, nach rationaler Abwägung von Daten & Fakten! Mit dem Kopf, nicht mit dem Bauch! Mit Vernunft und ohne Gefühl (zumindest Männern das, bei Frauen kann man sich seit jeher darauf leider, leider weit weniger verlassen).
Wir täuschen uns selbst
Mit dieser trügerischen Grundannahme will die Neurowissenschaftlerin und Bestsellerautorin Maren Urner aufräumen. Mit ihrem Buch „Radikal emotional. Wie Gefühle Politik machen.“ stellt die Professorin für nachhaltige Transformation unser gängiges Verständnis von Politik und Rationalität in Frage – und ein bisschen auf den Kopf.
Da Urner weiß, wie unser Gehirn funktioniert, weiß sie auch, wie sehr Emotionen die Vorgänge darin beherrschen. Und deshalb weiß sie auch, wie falsch es ist zu glauben, dass gute Politik eine rationale Angelegenheit ist – und dass es möglich wäre, Gefühl da rauszuhalten. „Wir können überhaupt nur zielgerichtete Entscheidungen treffen, weil wir bestimmte Vorlieben und Werte haben. Und die sind immer durch unsere Gefühle bestimmt“, erklärt sie mit Blick auf die Forschungsliteratur, die dies schon lange belegt.
Wir sind immer gefühlsgesteuert …
Für Naturwissenschaftlerin Urner sind wir „nichts anderes als emotionale Blobs auf zwei Beinen“ und Gefühle demnach nichts Privates, das man von einer sachlichen Ebene trennen könnte: „Die Ansicht, Emotionen hätten in der Politik nichts zu suchen ist sogar – Achtung! – irrational!“ Mit kurzem Blick auf Brexit und Trump glaube ich das sofort – aber auch auf die Kampagne, die Donald Tusk 2023 in Polen den Erfolg beschert hat: Sie setzte der zunehmenden Polarisierung (neben guten Argumenten) ganz viele symbolische Herzchen entgegen. Ich folge deshalb sehr willig Urners Einladung, die künstliche Trennung zwischen Verstand und Emotion zu überdenken.
Basierend auf aktuellen psychologischen, anthropologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen liefert Urner dabei nicht nur Argumente fürs Umdenken. Es ist ihr ein Anliegen, auch Lösungen anzubieten (weshalb sie übrigens auch die Plattform für konstruktiven Journalismus Perspecitve Daily mitgegründet hat). Deshalb gibt sie der geneigten Leserin – dynamisch und konstruktiv nach vorne schauend – auch direkt eine Anleitung mit, um Emotionen produktiv in politische Debatten und gesellschaftliche Diskurse einzubinden: eine Reifeprüfung für das 21. Jahrhundert in drei Schritten.
… erzählen uns aber das Gegenteil
Um die falsche Vorstellung vom Menschen als rationalem Wesen aufzulösen, sollten wir uns zunächst einmal unseren eigenen Gefühlen zuwenden und sie schätzen lernen: „Emotionen sind die Basis von allem menschlichen Dasein“, betont Maren Urner. Sie sagen uns: Das ist jetzt wichtig und richtig, egal ob es sich um die Auswahl des Kantinenessens handelt, die Entscheidung über einen Beruf oder um die Wahl einer Partei.
Ohne Gefühle wären wir also verloren. Dabei gibt es keine negativen Emotionen, denn sie sind einfach da – positiv oder negativ ist nur die Art und Weise, wie Menschen mit ihnen umgehen. Sie z.B. zu unterdrücken, wie man einen Wasserball unter die Oberfläche zwingen will, ist eine schlechte Idee: Irgendwann fliegen sie einem dann unangenehm um die Ohren. Besser ist es, einen reifen Umgang zu finden mit dem, was wir fühlen.
Schritt 1: Was nehmen wir wahr?
Zunächst geht es also um die emotionale Reife durch radikale Aufmerksamkeit. Unsere Emotionen steuern, was oder wen wir anhören. Umgekehrt beeinflusst alles, dem wir Aufmerksamkeit schenken auch unsere Gefühle. Deshalb sollten wir diese Ressource sehr sorgfältig verwenden. Das gelingt durch eine ehrliche Beantwortung dieser drei Fragen:
- Was geht in mir vor? Dazu gehört, dass wir lernen, Gefühle zu erkennen (was eine ziemliche Herausforderung sein kann, da in einer amerikanischen Umfrage die meisten nur drei Gefühle benennen konnten: Happy, sad und pissed off) und auch, alle Gefühle gleichermaßen zu schätzen – und dann zu entscheiden, wie ich mit ihnen umgehe.
- Wie sehe ich die Welt? Also wem schenke ich – in meiner Trauer, meiner Angst, meinem Enthusiasmus – meine Aufmerksamkeit? Sehe ich das, was fehlt, oder das, was entstehen könnte? Emotional reife Menschen widmen ihre Aufmerksamkeit einem guten Grund statt einer „bösen“ Abwehrhaltung. Sie fragen: Wofür bin ich? Und nicht: Wogegen? Dadurch finden sie Kraft zur Gestaltung der Zukunft. „Die Superpower der Menschen ist ihre Vorstellungskraft!“, unterstreicht Urner.
- Wer bin ich – und was ist mein Beitrag? Hier geht es um die Erkenntnis, dass wir im Grunde alle das gleiche wollen: Wir wollen geliebt und geschützt werden. „Wir sind diese sozialen Wesen, die zum Überleben und zum guten Leben andere Menschen brauchen“, schreibt Maren Urner. Emotional reife Menschen wissen das und versuchen deshalb auch immer, andere Menschen zu verstehen und mit ihrem Tun dazu beizutragen, dass es allen besser geht.
Schritt 2: Welche Geschichten erzählen wir uns?
Danach geht es von der individuellen Ebene auf die zwischenmenschliche: Wenn wir die eigenen Emotionen verstehen und beschreiben können, dann können wir auch mit anderen darüber reden. Und das ist wichtig. In der zweiten Prüfungsetappe geht es also um kommunikative Reife durch radikale Ehrlichkeit.
D. h. nachdem wir angefangen haben, uns und unsere Gefühle ehrlich wahrzunehmen, können (und sollten!) wir auch anfangen, uns ehrlichere Geschichten über uns und unsere Welt zu erzählen. Wir hören also z.B. auf, zu sagen, dass Politik eine sachliche Angelegenheit ist und Emotionen etwas für Weicheier sind. Wir geben aber auch ehrlichere Antworten auf Fragen wie diese: Was ist normal?
Ist es z.B. normal, dass es in einer fremden Stadt so viel einfacher ist, einen Autoverleih zu finden als ein Fahrrad zu leihen? Ist es normal, dass manche an übervollen Buffets schlemmen, während im Frühstücksfernsehen berichtet wird, dass diejenigen, die die Kaffeebohnen dorthin bringen, kaum überleben können? Kommunikativ reife Menschen können solche kognitive Dissonanzen erkennen und ehrlich ansprechen. Und zwar auch dann, wenn es schwer fällt, weil dies der kollektiven selbstberuhigenden Realitätsverweigerung empfindlich widerspricht. Gleichzeitig erzählen sie neue Geschichten darüber, was normal und erfolgreich ist – und zwar aus verschiedenen Perspektiven und im zukunftsfreudigen Wofür-Modus!
Schritt 3: Wie bringen wir zusammen, was zusammen gehört?
Der letzte Teil der Reifeprüfung dreht sich um die soziale Reife durch radikale Verbundenheit. Sie macht Schluss mit den falschen Strukturen, die wir uns um die falschen Geschichten herum aufgebaut haben. Insbesondere zielt sie auf die Aufhebung von Trennungen, die nicht mehr hilfreich sind. Das sind v.a. die folgenden drei:
- Die Trennung zwischen Gefühl und Verstand: Gefühle werden physiologisch im Hirn generiert werden und nicht im Herzen. Schon deshalb können wir dir Trennung nicht aufrecht erhalten. Zudem können wir Fakten ohne Emotionen gar nicht verarbeiten – und wenn wir uns etwas anderes erzählen, ist das Humbug. Denn Gefühl und Verstand sind zwei Facetten der selben Medaille, meint Urner: „Wenn es um Waffenlieferungen geht, geht es auch immer um Hass, Angst und Unsicherheit.“
- Die Trennung zwischen persönlich und politisch: Politik ist ein Aushandlungsprozesse über verschiedene Gefühlslagen von vielen emotionalen Blobs, die irgendwie versuchen, geliebt zu werden“, erklärt die Autorin in ihrem Vortrag auf der re:publica24. Deshalb ist ihrer Ansicht nach alles Politische auch Persönlich. Und umgekehrt: Wie ein Politiker sich ernährt, ist für sie z.B. ein Indikator, ob er einer kognitiven Dissonanz unterliegt oder nicht: Isst er vegan, handelt er schlüssig; Isst er Fleisch, steht aber dazu und erklärt reflektiert, warum er sich dazu entschlossen hat, dann handelt er auch schlüssig. Wenn er sich aber über die Frage aufregt und ausweicht, hat er die Reifeprüfung nicht bestanden.
- Die Trennung zwischen Ökonomie und Ökologie: Wir können nur wirtschaften, weil es dafür eine Grundlage in der Umwelt gibt – Luft, Wasser, Boden und Technik z.B. Deshalb müssen wir, wenn wir ein gutes Leben haben wollen auf diesem Planeten, uns selbst und unsere Umwelt schützen und bewahren. Und dass diese banale Weisheit noch immer von so vielen Arbeitgeberpräsidenten und Partei-Oberen geleugnet wird, ist die fatalste Realitätsverweigerung überhaupt.
Überwinden lassen sich die Trennungen durch Reflexion, durch Ehrlichkeit mit sich selbst und durch Vertrauen in unsere Mitmenschen. Und alle, die politisch handeln, sollten sich dies bewusst machen und am besten die ganze Reifeprüfung ablegen, bevor sie über Panzerlieferungen entscheiden, meint Urner: „Politik betrifft Menschen und wird von Menschen gemacht – und darum geht es bei ihr vor allem anderen um Gefühle und Emotionen.“