Systemisch aufgestellt

Meine erste Überraschung ist, dass in dem Raum fast 40 Stühle stehen. Viel mehr, als ich erwartet hatte. Irgendwie hatte ich mir das Setting intimer vorgestellt. Aber ich wusste bis jetzt auch quasi nichts über die Praxis von systemischen Aufstellungen. Dass ich mich trotzdem vor Wochen zum ersten Mal als Stellvertreterin für eine Familienaufstellung angemeldet habe, liegt an Doro und Markus. Beide haben schon mehrere Interventionen mitgemacht und mir die Erfahrung sehr empfohlen.

Und nun bin ich hier am diesem vorweihnachtlichen Novembermorgen und weiß immer noch wenig, im Gegensatz zu den meisten der mindestens 30 andere Menschen hier. Viele kennen sich offenbar, einige scheinen Stammgäste zu sein, die Aufstellerin Subodhi begrüßt fast alle innig. Es sind also Aufstellungsprofis dabei – und das beruhigt mich sehr. Denn ich gehe davon aus, dass ich unter diesen Umständen kaum eine tragende Rolle übernehmen und in irgendeinem Mittelpunkt stehen werde.

Die zweite Überraschung: Es sind vier Menschen, die ein Aufstellungsthema mitgebracht haben. Auch das übersteigt meine bescheidenen Erwartungen, erklärt aber immerhin die vielen Anwesenden. Denn viele Aufstellungen erfordern viel Personal, so meine Folgerung. Die Themen decken die erweiterte Standardfamilie ab: Jemand möchte die Beziehung zur kühlen Mutter klären, eine will mit dem Stiefvater ins Reine kommen, der andere mit dem abwesende Vater und die vierte sucht Unterstützung, um den erwachsenen Sohn besser loslassen zu können.

Familien aufstellen – mit Anleitung

Die Austellung beginnt immer damit, dass die Fallgeberin sich eine Stellvertreterin aussucht – also eine Person wählt, die in der Aufstellung ihrer Rolle übernimmt. Nimmt die Gewählte die Rolle an, schiebt die Fallgeberin sie mit den Händen an den Schultern durch den Raum und stellt sie irgendwann intuitiv irgendwo ab. Dann wird die Person, um die es gehen soll, auf gleiche Art dazugestellt: Beispielweise wird der ausgewählte Stiefvater nach einigen Schritten 1,5 Meter vom Stellvertreter platziert, ihm zugewandt, aber nicht ganz frontal. Die Mutter im anderen Fall steht näher, aber so, dass sie genau an ihrem Kind vorbeischaut. Alle lassen die Situation auf sich wirken und die beiden Hauptpersonen werden dann von Subodhi zu ihrem Befinden befragt. Meist ist es recht unentspannt zu diesem Zeitpunkt – zu sehr steht die eine Beziehung im totale Fokus.

Dann stellt die systemische Aufsstellerin, die in diesem Fall auch Psychotherapeutin und Heilpraktikerin ist, weitere Fragen zum Fall und stellt nach und nach noch andere Beteiligte in die Runde. Beispielsweise den Bruder des Fallgebers, die beiden Kinder des Stiefvaters aus erster Ehe, den Vater zur Mutter und deren 10 Geschwister, um deutlich zu machen, in welch engen familiären Bindungen die Mutter aufgewachsen ist (hier habe ich tatsächlich meinen einziger Auftritt!).

Aufgestellt wird aber auch zum Beispiel die Pflicht, die den Vater ein Leben lang fest im Griff hatte: Sobald die Frau, die sie verkörpern soll, hinter ihn gestellt wird, sinken seine Schultern nach unten, man sieht die Belastung, die sie darstellt. Im anderen Fall kommt so der Alkohol im Spiel, der den Vater dort im Griff hatte: Als die Person, die den Alkohol darstellt, auf ihn zutritt, schaut der Stellvertreter erschreckt und geht hastig ein paar Schritte weiter (ganz offensichtlich, ohne bewusst über die Bewegung nachgedacht zu haben). Doch der Alkohol (bzw. seine Stellvertreterin) weiß intuitiv, was er zu tun hat und verfolgt ihn – eine Weile kreisen sie hintereinander durch den Stuhlkreis, ohne voneinander loszukommen. Auch hier glaubt man, die Abhängigkeit zu spüren.

Sichtbare Emotionen

Überhaupt spürt man viel beim Zuschauen. Und es ist faszinierend, wie viel Gefühle die Stellvertreter:innen – die den/die Fallgeber:in manchmal kennen, in der Regel aber völlig Unbekannte sind – zeigen. Etwa der Stiefvater, an dem sich ein Fallgeber in der Pubertät intensiv abgearbeitet hat und der offenbar noch immer sehr wichtig für ihn ist. Sein Stellvertreter steht dem „Jungen“ zögerlich zugewandt gegenüber, unsicher, wie nahe er kommen darf, und ist offenbar sehr angespannt – was in der Millisekunde überdeutlich wird, als Subodhi einen Stellvertreter für den leiblichen Vater neben ihn stellt: Sofort lockern sich Schultern und Arme, er atmet auf. „Ach ja, ich bin ja gar nicht allein mit dem Kind!“, sagen seine minimalen Haltungsänderungen.

Von solchen kleinen Gesten gibt es viele – die Aufrichtung der Mutter, als der Vater ihr endlich in die Augen sieht, die kleine Handbewegung zur Tochter hin, die soviel Sehnsucht nach Verbindung andeutet… Aber auch große Gesten gibt es. Und sie zeigen deutlich, wie viel Risiko solche Ausstellungen bergen können, wenn da niemand ist, der die behutsam moderiert. Denn sie wirken schnell befremdlich, manchmal sogar fast bedrohlich. In einer Aufstellung liegt fast durchgehend die Fehlgeburt mit im Bild, über die nie gesprochen wurde – bei Bedarf wird sie von den Geschwistern am Arm mitgezogen. Ein anderes Mal fängt ein Stellvertreter an zu schreien, sein Gegenüber anzubrüllen, mit den Füßen zu trampeln und es kräftig von sich wegzustoßen.

In der anschließenden Fragerunde werden wir aber beruhigt: Die beiden Personen sind erfahrene Aufsteller:innen, wissen also, wie man jemand „schubsen“ darf, ohne dass sich jemand verletzt. „Aber bei weniger erfahrenen Leuten hätte es genauso gut funktioniert, dann hätte ich einfach kurz gesagt, wo sie die Hände hintun sollen“, erklärt Aufstellerin Subodhi. Und ich glaube ihr das, denn sie hat die Situationen gut begleitet, in denen es nötig war, und sich zurückgenommen, wo auch ohne sie genug passierte. Das wirkte sehr souverän.

Wie viel Anteil die erfahrenen Mitspieler*innen daran hatten, ist schwer zu sagen. Und ob ich als unerfahrene Stellvertreterin tatsächlich auch so laut geworden wäre, wenn es die emotionale Situation erfordert? Kann ich mir nicht vorstellen, aber wer weiß, was in mir los gewesen wäre in der anderen Rolle… In der Methode jedenfalls stecken sicher noch einige Überraschungen mehr. Und definitiv auch erstaunliche Erkenntnisse. Früher oder später komme ich daher bestimmt noch einmal wieder (und bis dahin finde ich vielleicht noch mehr über die wissenschaftlichen Hintergründe heraus. Denn Forschungen dazu gibt es).

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