Wie kann man Veränderung überstehen, verarbeiten, aushalten? Mehr noch: Wie kann man lernen, das Beste daraus zu machen, und Veränderung positiv beinflussen? Wie kann ich also aufhören, den ständigen Veränderungen hinterherzurennen, mich als erschöpftes Opfer meiner Umstände zu fühlen, und aktiv zur Gestalterin meiner Welt werden? Ich glaube, es sind solche Fragen, die mich zur Theorie U von C. Otto Scharmer gebracht haben.
Jedenfalls passen sie mit ihren Formulierungen zu dem Gefühl der Sehnsucht danach, tiefer ins Thema einzutauchen, das ich habe, seit ich 2016 erstmals mit dem Ansatz in Berührung kam. Hier mein Interview mit Otto Scharmer von damals: „Mit der Theorie U den disruptiven Wandel bewältigen“. (Leider habe ich mich beim Stellen der Fragen so oft verhaspelt, dass wir am Ende meinen gesamten Sprechpart rausschneiden mussten – reden konnte ich damals definitiv noch nicht. Die Antworten von Otto Scharmer sind dafür aber nicht weniger gut!).
Transformation als kollektiver Bewusstseinswandel
Ein Grund für diese persönliche Anziehungskraft ist, dass die Theorie groß ist: Theorie U bringt Dinge zusammen, die auf den ersten Blick nicht naheliegen: Naturwissenschaft und Bewusstsein, Persönlichkeitsentwicklung und systemisches Denken, Sozialer Wandel und Spiritualität, indigene Weisheitslehren und westliche Aktionsforschung, bürgerschaftliches Engagement und buddhistische Erkenntnistheorie, organisationales Lernen und globale Transformation. Ziel ist ein bewusstseinsbasierter Systemwandel: „Hauptanliegen der Theorie U ist es, die Kraft der Achtsamkeit (die bisher auf die persönliche Entwicklung des Individuums beschränkt wird) und des Bewusstseins zu erweitern, um die Transformation des Kollektivs, die Evolution des gesamten Systems zu ermöglichen.“ Also eben mal die Welt verändern – genau mein Ding 😉
Dazu flossen die Ideen und Gedanken spannender Vordenker wie Ed Schein, Peter Senge und Donella Meadows ebenso in die Entstehung der Theorie ein wie die Erkenntnisse erfolgreicher, innovativer Führungskräfte, die Scharmer für seine Recherchen interviewte. Dazu kam die Energie weniger bekannter Menschen, die direkt vom Ansatz überzeugt waren und ihn in unzähligen Projekten und Initivativen weltweit praktisch umsetzten. Mit vielen von ihnen zusammen gründete Otto Scharmer – Ökonom, Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, und geborener Norddeutscher – 2006 zunächst das Presencing Institute, mit dem er Unternehmen und Organisationen unterstützt, systemische Transformationen zu initiieren, zu begleiten und zu verarbeiten. 2009 erschien dann sein großes Werk „Theorie U – Von der Zukunft her führen“.
Von der Zukunft her denken
Dabei geht es auch darum, aktuelle Veränderungen nicht mehr nur mit den Erfahrungen und Konzepten der Vergangenheit zu bewerten und zu bearbeiten. Es geht darum, – individuell und v.a. kollektiv – von der sich abzeichnenden Zukunft zu lernen: Es geht darum, mit dem zu arbeiten, was erst noch kommt. Die Anleitung dafür liefert die Theorie U mit einem kompletten Framework und zahlreichen Methoden: Sie sind angeordnet auf einer U-förmigen Kurve (siehe u-lab II), die auf der einen Seite die Vertiefung vom sachlichen Analysieren bis hin zur intuitiven Versenkung und wieder nach oben zurück in die Welt und ins praktsiche Handeln beschreibt.
Dieses „Sich-Einlassen-auf-die-im-Entstehen-begriffene-Zukunft“ (ja, die Sprache von Scharmer ist eigen) erfordert eine große Offenheit in Kopf und Herz und vor allem auch Mut. Denn wer die Theorie U anwenden will, muss sich auch auf Wege der Wahrnehmung einlassen, die nicht immer den etablierten kognitiven Kanälen entsprechen. Um zu erkennen, was noch gar nicht ganz in der Welt ist, braucht es neben dem intellektuellen Analysieren auch intuitives Er-Spüren. Deshalb steht am Fuße des „U“ – dem Schlüsselmoment des Prozesses – das Presencing: Hier wird mit Methoden, die an Phantasiereisen erinnern, mit Körperarbeit, mit Aufstellungen und vielem mehr gearbeitet, um Zugang zu unserem Wissen zu erlangen, auf dass wir bewusst (noch) keinen Zugriff haben. Vorhanden ist es trotzdem. Und es lässt sich spür- und greifbar machen.
Erleben und erlernen lassen sich diese Methoden, die helfen sollen, von der Zukunft her denken zu können, auf der ebenfalls von Scharmer und seinem Team gegründeten Lernplattform: Die U-School for Transformation. Sie will die Transformationskompetenzen weltweit zugänglich machen und Menschen, die gesellschaftliche Veränderung anstoßen wollen, zusammenbringen. Jedes Jahr im September startet seit 10 Jahren ein kostenloser Massive Open Online Course (MOOC) im Rahmen des virtuellen Weiterbildungsprogramm MITx des MIT, der eine Einführung in die Theorie U bietet: u-lab 1x „Leading from the emerging future“. Und 2023 war ich endlich dabei – mit Zeit, Energie und einem offenen Herzen (das am Ende noch viel offener war!). Ich werde berichten …